Ein Sektor im strukturellen Dilemma
Der deutsche Bankenmarkt befindet sich in einem tiefgreifenden Transformationsprozess. Auf der einen Seite bleibt der Wunsch der Kundinnen und Kunden nach lokal verankerter, vertrauensvoller Beratung bestehen. Auf der anderen Seite prägen digitale Plattformen, FinTechs und Direktbanken zunehmend die Art und Weise, wie Menschen Finanzdienstleistungen suchen, auswählen und nutzen. Diese doppelte Marktbewegung bringt insbesondere Regionalbanken – Sparkassen, Volks- und Raiffeisenbanken sowie kleinere Privatbanken – in einen strategischen Spagat bzw. ist eine große Herausforderung.
Die jüngsten Analysen aus Der Bank Blog verdeutlichen zwei wesentliche Trends, die sich unmittelbar auf die Zukunftsfähigkeit regionaler Institute auswirken:
- Der Balanceakt zwischen Nähe und Digitalisierung:
Filialbanken müssen analoge Stärken und digitale Erlebnisse zu einem schlüssigen Gesamtangebot verbinden. - Der Wandel vom „Badewannen- zum Strandeffekt“ im Girokontomarkt:
Das einst stabile Fundament der Kundenbeziehung – das klassische Girokonto – steht stärker unter Wettbewerb als je zuvor.
Zusammen beschreiben diese Entwicklungen ein strukturelles Dilemma, das Banken zwingt, ihren Kundenzugang, ihre Produktstrategien und ihre kanalübergreifenden Prozesse neu zu denken.
1.1. Das traditionelle Stärkeprofil der Regionalbanken
Regionalbanken gelten seit Jahrzehnten als zuverlässige Ansprechpartner für private Kundinnen und Kunden. Ihre Stärken liegen traditionell in:
- persönlicher Beratung und Vertrauensbeziehungen,
- regionaler Präsenz,
- Kenntnis lokaler wirtschaftlicher Strukturen,
- Kundennähe und langfristiger Bindung.
1.2. Digitalisierung als Wettbewerbsfaktor – und als Risiko
Der Beitrag „Regionalbanken zwischen Nähe und Digitalisierung“ zeigt deutlich: Kundinnen und Kunden erwarten heute, dass wesentliche Finanzprozesse bequem, schnell und ortsunabhängig funktionieren.
Dazu gehören:
- intuitives Mobile- und Onlinebanking,
- digitale Kontoeröffnung und Kreditprozesse,
- Terminvereinbarung und Beratung per Video,
- Chat-Dialoge, Interaktionsangebote, digitale Self-Service-Prozesse.
Regionalbanken müssen sich daher folgende Fragen stellen:
- Wie gelingt es, persönliche Beratung digital zu verlängern?
- Wie nutzt man Daten, um Kundenbedürfnisse frühzeitig zu erkennen?
- Wie verbindet man digitale Transparenz mit menschlicher Expertise?
1.3. Hybride Beratung als tragfähiges Zukunftsmodell
Die Synthese aus Nähe und Digitalisierung führt konsequent zu einem hybriden Betreuungsansatz.
Erfolgreich sind Banken, die:
- analoge Beratungskompetenz und
- digitale Erreichbarkeit, Flexibilität und Bequemlichkeit miteinander kombinieren.
- Beratung per Video, ergänzt durch persönliche Termine vor Ort,
- digitale Bedarfsanalysen im Vorfeld eines Gesprächs,
- KI-gestützte Unterstützung bei der Informationsvorbereitung,
- digitale Vertragsunterzeichnung in Verbindung mit beratungsintensiven Produkten.
2. Das Girokonto im Strukturwandel: Vom sicheren Anker zum Wettbewerbsrisiko
2.1. Der Badewannen- und der Strandeffekt: Ein Markt im Umbruch
Der zweite Beitrag aus Der Bank Blog bringt die Lage im Girokontomarkt treffend auf den Punkt. Während Banken früher auf den sogenannten Badewanneneffekt vertrauten – also die angenommene Stabilität der Girokontobeziehung –, zeigt sich heute das Gegenteil: Der Markt hat sich zu einem Strandeffekt entwickelt. Banken riskieren, „auf dem Trockenen zu liegen“, wenn sie ihre Rolle als primärer Finanzpartner verlieren.
Ursachen dieser Entwicklung:
- FinTechs und Neobanken setzen mit attraktiven Interfaces, kostenlosen Modellen und innovativen Features neue Standards.
- Direktbanken punkten mit einfachen Prozessen und schlanken Gebührenstrukturen.
- Plattformanbieter etablieren Finanzfunktionen, die früher klassische Bankdomänen waren.
2.2. Das Girokonto als Schlüssel zur wirtschaftlichen Kundenbeziehung
Das Girokonto war jahrzehntelang der natürliche Zugangspunkt zu allen weiteren Produkten einer Bank. Wer das Konto hatte, hatte Zugang zu Sparprodukten, Krediten, Baufinanzierungen, Wertpapiergeschäften und Versicherungen.
Wenn diese Funktion schwindet, geraten traditionelle Vertriebsmodelle unter Druck. Ohne Girokonto sinken Cross-Selling-Potenziale drastisch. Der Verlust der Konto-Beziehung ist daher meistens der Beginn eines dauerhaften Kundenverlustes.
2.3. Neue Anforderungen: Ökosysteme, Mehrwertdienste und emotionale Bindung
Um dem Strandeffekt entgegenzuwirken, müssen Banken das Girokonto neu interpretieren.
Zentrale Strategien: Erweiterung des Funktionsumfangs
Beispiele:
- Smart-Budgeting
- Finanzmanager
- Vertrags-Check
- Versicherungsübersicht
- digitale Identitätsdienste
Aufbau von Ökosystemen
Regionale Banken können ihre lokale Verankerung nutzen, um ergänzende Partnerdienste einzubinden – von regionalen Händlern bis zu Mobilitätslösungen. Das Konto wird zur Plattform für regionale Mehrwerte.
Bindungsprogramme
Persönliche Beratung, transparente Gebührenmodelle, digitale Convenience und verlässlicher Service stärken die emotionale Bindung.
3. Verbindungslinie: Warum Nähe und Girokonto dieselbe strategische Baustelle sind
Auf den ersten Blick behandeln die beiden Beiträge unterschiedliche Themen – strategische Positionierung vs. Produktwettbewerb. In der Analyse zeigt sich jedoch ein klarer Zusammenhang:
- Wer Nähe nicht digitalisiert, verliert Kunden frühzeitig.
- Wer das Girokonto nicht stabilisiert, verliert den Zugang zu Beratung und Wertschöpfung.
3.1. Nähe benötigt digitale Unterstützung
Regionale Banken können ihre unterschiedlichen Beratungskompetenzen nur dann wirksam einsetzen, wenn sie auch digital sichtbar, erreichbar und erlebbar sind.
3.2. Das Girokonto ist das Eintrittstor zur Nähe
Wenn das Girokonto von FinTechs übernommen wird, verliert die Bank den entscheidenden Kontaktpunkt.
Denn ohne Konto:
- weniger Beratungskontakte,
- geringere Bindung,
- sinkende Relevanz im Finanzalltag.
Nähe und Girokonto sind zwei Seiten derselben Medaille – die Medaille heißt Kundenbeziehung.
4. Handlungsempfehlungen für Regionalbanken
Auf Basis der beiden Beiträge lassen sich konkrete Empfehlungen ableiten:
4.1. Digitale und persönliche Kanäle konsequent verbinden
- Ausbau von Video- und Hybridberatung
- Digitalisierung der Terminvereinbarung und Vorqualifikation
- Transparente Prozesse im Onlinebanking
- Zusatzservices integrieren
- Ökosysteme mit regionalem Charakter aufbauen
- Preis- und Leistungsmodelle klar kommunizieren
- Bedürfnisse verschiedener Zielgruppen analysieren
- Erkenntnisse aus Touchpoints (digital & analog) zusammenführen
- Beratungsqualität messbar machen
- Nutzung von Daten für Bedarfsanalysen
- KI-basierte Tools für Kundenkommunikation vorbereiten
- Mitarbeiter befähigen, mit neuen Technologien umzugehen
Die beiden Studien verdeutlichen: Die Zukunft regionaler Banken entscheidet sich weniger durch Filialanzahl oder Produktvielfalt, sondern durch die Fähigkeit, echte Kundenerlebnisse über alle Kanäle hinweg zu gestalten. Nähe bleibt ein Erfolgsfaktor, aber eine neue Art von Nähe, die sowohl digital als auch persönlich erlebbar ist.
Regionalbanken, die diese Herausforderungen annehmen, haben gute Chancen, auch in einem stärker kompetitiven Umfeld relevant zu bleiben. Voraussetzung ist jedoch ein klares Verständnis dafür, dass:
- Digitalisierung keine Option, sondern eine Überlebensbedingung ist,
- das Girokonto neu gedacht werden muss,
- Kundenzugang der zentrale Erfolgsfaktor bleibt.
Quellen:
- Regionalbanken zwischen Nähe und Digitalisierung
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Der Kampf um Girokonto-Kunden
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