Kommentar von Seyfettin Günder zu den aktuellen Apotheken-Nachrichten über dm-med, Dauerpreislogik und den neuen Vergleichsdruck im OTC-Versandmarkt
Wer den Start von dm-med nur als weiteres Angebot im digitalen Regal liest, verpasst die eigentliche Botschaft: Hier wird nicht nur ein Shop eröffnet, hier wird ein Normalpreis gesetzt. Der Unterschied ist entscheidend, weil ein Normalpreis nicht wie eine Aktion wirkt, sondern wie eine neue Grundannahme, die sich in Köpfen festsetzt, lange bevor sie sich in Bilanzen zeigt. Wenn der Einstieg über „fast durchweg günstiger“ läuft und der Vergleich ausgerechnet gegen die bekannte Versandkonkurrenz als Referenz gebaut ist, wird Preis nicht zum Lockmittel, sondern zum Code, mit dem der Markt sich selbst umschreibt.
Das Gefährliche an dieser Logik ist nicht der einzelne Cent, sondern die Gewöhnung. Wer im Alltag lernt, dass apothekenpflichtige Produkte in einer Drogerie-App zuverlässig unter dem bekannten Versandniveau liegen, wird jedes spätere Gespräch in der Offizin mit einem inneren Screenshot beginnen. Aus der Frage nach Wirkung wird dann eine Frage nach Differenz, aus der Beratung wird eine Rechtfertigung, und aus der Versorgung wird ein Zusatznutzen, der sich erst beweisen muss. Genau so verschiebt sich Deutungshoheit: nicht durch eine große Kampagne, sondern durch leise Routine.
Dauerpreis ist dabei mehr als ein Preisschild, er ist eine Haltung, die das Suchen ersetzt. Wenn Kundschaft nicht mehr „Angebote“ jagt, sondern einen verlässlichen Unterboden erwartet, wird Vergleich zur Reflexhandlung und jede Abweichung wirkt wie ein Fehler, nicht wie eine Folge unterschiedlicher Leistungen. Für Vor-Ort-Apotheken ist das ein struktureller Nachteil, weil ihre Mehrleistung nicht im Checkout sichtbar wird, aber ihre Fixkosten sehr real sind. Der Markt beginnt dann, Beratung, Vorhaltung und Haftung als selbstverständlich zu behandeln, während er nur den Warenkorb bewertet.
Hinzu kommt die Alltagsintegration, die eine Drogeriemarke anders beherrscht als klassische Versender. Wer OTC in dieselbe App-Routine legt wie Pflege, Kosmetik und Haushalt, macht aus apothekenpflichtigen Produkten einen Teil des normalen Einkaufs, nicht eine eigenständige Entscheidung. Das senkt die Schwelle, aber es senkt auch die Aufmerksamkeit. Je geringer die Aufmerksamkeit, desto größer die Gefahr, dass Arzneimittel als Konsumgut gelesen werden, dessen Qualität sich am Preis festmachen lässt, während die eigentliche Qualität in richtigen Fragen, richtigen Grenzen und richtiger Weiterleitung liegt.
Die Branche hat in solchen Momenten eine typische Fehlreaktion: Sie antwortet mit Gegenrabatten und nennt das Wettbewerb. Das ist nachvollziehbar, aber es ist auch die schnellste Art, Reserve zu verlieren. Denn die Offizin kann Preis nur begrenzt spielen, ohne an Personalbindung, Öffnungsqualität und Prozesssicherheit zu sparen, und genau dort beginnt das leise Apothekensterben nicht als Drama, sondern als Abrieb. Wer die eigene Stabilität über den Preis rettet, rettet sie nur kurzfristig, weil er den Teil der Leistung aushöhlt, der Vertrauen überhaupt erst erzeugt.
Damit ist der dm-med-Start kein einzelnes Ereignis, sondern ein Prüfstein: Entscheidet der Markt künftig über Versorgung oder über Warenkorb, über Einordnung oder über Vergleich, über Vertrauen oder über Preisgefühl. Wer hier nur mit Empörung antwortet, verliert; wer nur mit Unterbietung antwortet, verliert schneller. Tragfähig wird es nur, wenn Apotheken ihre Stärke als Ordnungsmacht im Alltag wieder sichtbar machen, ohne in den Ton des Belehrens zu rutschen und ohne so zu tun, als sei Preis unwichtig. Preis ist wichtig, aber er darf nicht die einzige Wahrheit werden, sonst wird Versorgung zur Restgröße.
An dieser Stelle fügt sich das Bild.
Ein Preisanker ist ein stiller Vertrag, den der Markt unterschreibt, ohne ihn zu lesen. Er verspricht Einfachheit und liefert Gewöhnung, und genau darin liegt seine Macht. Wo Dauerpreis und App-Routine zusammenkommen, wird Vergleich zur Normalität und Normalität zur Erwartung. Dann steht nicht mehr der Patient im Mittelpunkt der Entscheidung, sondern der Warenkorb, der am wenigsten widerspricht. Und plötzlich muss Versorgung beweisen, dass sie mehr ist als ein Klick.
Dies ist kein Schluss, der gelesen werden will – sondern eine Wirkung, die bleibt. Der Markt kann sich monatelang erzählen, dass günstig gleich gut sei, bis er merkt, was er dabei unsichtbar gemacht hat. Wer apothekenpflichtige Produkte in Dauerpreis gießt, gießt auch die Erwartung, dass Beratung, Verantwortung und Verfügbarkeit kostenlos mitfließen. Das funktioniert eine Zeit lang, weil Probleme nicht täglich auftreten und weil Bequemlichkeit selten widersprochen wird. Wenn es kippt, kippt es nicht im Warenkorb, sondern in der Versorgung, die plötzlich mehr Reparatur leisten muss, weil vorher weniger Einordnung stattgefunden hat. Die Frage ist nicht, ob Wettbewerb erlaubt ist, sondern ob der Wettbewerb die Leistung entwertet, die am Ende alle brauchen.
SG
Prokurist | Publizist | Verantwortungsträger im Versorgungsdiskurs
Kontakt: sg@aporisk.de
Wer das für Formalie hält, unterschätzt die Verantwortung, die Sprache heute tragen muss.
Ein Kommentar ist keine Meinung. Er ist Verpflichtung zur Deutung – dort, wo Systeme entgleiten und Strukturen entkoppeln.
Ich schreibe nicht, um zu erklären, was gesagt wurde. Ich schreibe, weil gesagt werden muss, was sonst nur wirkt, wenn es zu spät ist.
Denn wenn das Recht nur noch erlaubt, aber nicht mehr schützt, darf der Text nicht schweigen.
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