Stand: Freitag, 12. Dezember 2025, um 17:31 Uhr
Apotheken-News: Kommentar von heute
Kommentar von Seyfettin Günder zu den aktuellen Apotheken-Nachrichten über dm-med, OTC-Versand, Beratungspflicht und die Zukunft der Vor-Ort-Apotheken
Der Start von dm-med ist kein weiterer Eintrag in der langen Liste digitaler Wettbewerber, sondern ein Strukturereignis. Ab Dienstag, 16. Dezember 2025, werden rund 2500 apothekenpflichtige OTC-Arzneimittel über die dm-Plattform bestellbar, flankiert von etwa 1000 Hautkosmetik-Produkten, ausgeliefert über ein Logistikzentrum in Tschechien. Hinter dieser Entscheidung steht ein zweistelliges Millioneninvestment und ein konzernweiter Einsatz „mehrerer Hundert“ Mitarbeitender. Das ist die entscheidende Information, weil sie den Zeithorizont verrät: Hier wird nicht ausprobiert, hier wird umgebaut. Marktmacht entsteht selten im Moment, sie entsteht in der Wiederholung.
Die besondere Wucht liegt nicht in der Packung, sondern im Einkaufsweg. Der OTC-Kauf rückt in dieselbe Routine wie Zahnpasta, Windeln oder Rasierklingen, und Routine ist der stärkste Beschleuniger für Gewohnheitsentscheidungen. Eine Setzung gilt: Wer den Checkout kontrolliert, kontrolliert den Reflex. Im Alltag bedeutet dies, dass die Schwelle zur Selbstmedikation sinkt, während die Schwelle zur Rückfrage steigt, weil Rückfrage Zeit kostet und Zeit im Massencheckout als Störung empfunden wird. Genau hier beginnt die Verschiebung, die klassische Versandapotheken nur begrenzt erzeugen konnten: dm bringt keine neue Preisidee, dm bringt Normalität.
Der Vergleich mit DocMorris oder Shop-Apotheken greift deshalb zu kurz. Der Versender arbeitet über Sichtbarkeit im Netz und über Kampagnen; dm arbeitet über Alltagsvertrauen und Filialrealität, selbst wenn die Transaktion online stattfindet. Vertrauen wandert schnell, Fachwissen wandert langsam. Das ist kein moralischer Satz, sondern eine Marktlogik. Wer dm seit Jahren als verlässlich erlebt, überträgt dieses Gefühl auch auf neue Kategorien, solange nichts sichtbar dagegensteht. Ein Preisversprechen wie „günstiger Dauerpreis“ wirkt dabei nicht als Einladung zur Diskussion, sondern als stiller Standard.
Vor-Ort-Apotheken stehen damit vor einer unbequemen Wahrheit: Fachlichkeit gewinnt nicht automatisch, wenn sie nur vorhanden ist. Sie gewinnt nur, wenn sie als Prozess sichtbar wird, reproduzierbar, schnell, konsequent. Beratung als Haltung reicht nicht, Beratung als System ist gefragt. Gerade bei Schmerz, Allergie und Erkältung entscheidet nicht nur der Wirkstoff, sondern der Kontext: Begleitmedikation, Kontraindikationen, Dosierung, Warnsymptome. Das ist die Zone, in der Apotheke echten Mehrwert erzeugt, weil hier Risiko in Minuten erkannt und abgeräumt werden kann. Eine Setzung gilt: Die Apotheke ist kein Regal, sondern ein Risikofilter.
Die DAV-Kritik an Verwechslungsgefahr trifft den richtigen Nerv, aber sie bleibt wirkungslos, wenn sie nur als Warnung im Raum steht. Der entscheidende Punkt ist nicht, dass ein Drogeriekonzern OTC verkauft, sondern wie der Markt künftig das Wort „fachgerecht“ wahrnimmt. „Fachgerecht“ ist im Alltag nur dann glaubwürdig, wenn es konkrete Spuren hinterlässt: nachvollziehbare Rückfragen, klare Abgrenzung von Symptomen, dokumentierte Entscheidungen bei riskanten Konstellationen. Der Maßstab ist nicht die Absicht, sondern die Ausführung. Wer hier weiter nach Schema F arbeitet, wird nicht überholt, sondern überdeckt.
Gleichzeitig liegt in dm-med ein paradoxer Vorteil für diejenigen Apotheken, die ihr Handwerk ernsthaft organisieren. Denn Massenroutinen produzieren auch Massenfehler: falsche Auswahl, falsche Dosierung, falsche Erwartung an Wirkungseintritt, riskante Kombinationen. Im Alltag bedeutet dies, dass Beratungsanlässe nicht verschwinden, sondern sich verschieben: weg vom Erstkauf, hin zur Korrektur, zur Abklärung, zur Schadensvermeidung. Genau dort kann eine Apotheke Relevanz zurückgewinnen, wenn sie schnell und präzise ist. Eine Setzung gilt: Korrekturkompetenz ist ein Geschäftsfeld, das niemand bewirbt, aber jeder braucht.
Es bleibt jedoch eine harte betriebliche Seite. OTC war für viele Betriebe der flexible Puffer, der Service, Personalaufwand und Teile der Fixkosten mitgetragen hat. Wenn dieser Puffer unter Dauerpreis-Vergleiche gerät, wird der wirtschaftliche Druck nicht abstrakt, sondern unmittelbar. Dann geht es nicht mehr um „Umsatz“, sondern um Minuten und Kosten: Wie viel Beratungszeit ist finanzierbar, welche Prozesse sparen Zeit ohne Qualitätsverlust, welche Kategorien sind Beratungstreiber, welche sind reine Vergleichsware. In dieser Lage wird Betriebsführung zur Versorgungsfrage. Das ist der Punkt, an dem Zukunft nicht in Sonntagsreden liegt, sondern in täglicher Organisation.
Die zweite Debatte, die dm parallel anstößt, betrifft Präventionsangebote und Screenings. Hier zeigen sich bereits Konflikte mit Ärzteverbänden, die Verunsicherung und Mehrbelastung der Praxen befürchten. Entscheidend ist die Anschlusslogik: Ein Screening ohne klare Wege erzeugt Nachfrage, aber keine Lösung. Im Alltag bedeutet dies, dass Menschen mit einem Ergebnis, das sie nicht einordnen können, dorthin gehen, wo Einordnung greifbar ist. Das kann die Arztpraxis sein, das kann die Apotheke sein. Wer Einordnung leisten will, braucht Standards, Grenzen und Kooperationen, die rechtlich und fachlich sauber sind. Eine Setzung gilt: Prävention ohne Anschluss ist nicht Hilfe, sondern Verschiebung.
Kooperationsgedanken zwischen dm und Apotheken tauchen bereits auf, und sie sind ökonomisch verständlich. Doch Kooperation ist kein freundliches Gespräch, sondern ein Haftungs- und Verantwortungsgefüge, das in Arzneimittelfragen gnadenlos ist. Sobald Zuständigkeiten diffundieren, entstehen neue Risiken: Dokumentation, Reklamationen, Rückrufe, Temperaturführung, Beratungspflichten. Im Alltag bedeutet dies, dass jedes hybride Modell nur dann tragfähig ist, wenn Verantwortung eindeutig bleibt und Prozesse prüfbar sind. Wer Kooperation romantisiert, lädt die nächste Krise ein.
Was folgt daraus als Botschaft für die Branche? Nicht Empörung, sondern Priorisierung. Nicht Nostalgie, sondern Profil. Nicht „mehr Marketing“, sondern mehr Prozessqualität, sichtbar gemacht in der Sprache, im Ablauf, in der Konsequenz. Eine Setzung gilt: Zukunft entsteht nicht durch Anspruch, sondern durch Wiederholbarkeit. Dort liegt auch die trennscharfe Linie zu dm: dm kann Logistik, Sortiment und Preisroutine skalieren; Apotheken können Risikoarbeit, Indikationsprüfung und Therapiesicherheit leisten. Nur muss diese Stärke so organisiert sein, dass sie im Alltag nicht untergeht.
Der dm-Start ist damit ein Weckruf, weil er die bequemste Illusion beendet: dass der Unterschied zwischen Drogerie und Apotheke im Kopf der Kundschaft von selbst bestehen bleibt. Unterschiede, die nicht erklärt und erlebt werden, verschwinden. Die Antwort darauf ist kein Abwehrkampf, sondern eine professionelle Zuspitzung: Apotheke als Ort, an dem Entscheidungen geprüft werden, bevor sie schaden. Wer diese Rolle ausfüllt, wird nicht kleiner, sondern notwendiger. Wer sie nicht ausfüllt, wird im Dauerpreislicht unsichtbar.
dm-med wirkt harmlos, weil es „nur“ um OTC geht, doch genau dort wird Gewohnheit gebaut. Wenn ein Drogerieriese den Arzneimittelkauf in den Alltags-Checkout zieht, verschiebt sich die Norm: Preis und Bequemlichkeit werden Standard, Rückfrage wird Ausnahme. Das zwingt Vor-Ort-Apotheken zu einer neuen Sichtbarkeit von Fachlichkeit. Wer Kompetenz nicht als Prozess organisiert, wird von Routine überrollt.
Dies ist kein Schluss, der gelesen werden will – sondern eine Wirkung, die bleibt. dm-med beendet die Illusion, dass Abgrenzung von allein funktioniert, weil der Kaufweg die Wahrnehmung prägt. Für Vor-Ort-Apotheken wird Beratung zur Führungsaufgabe: schnell, reproduzierbar, konsequent, dokumentierbar. Der Wettbewerb wird weniger über Sortiment entschieden als über Risikoarbeit in Minuten. Wer das leistet, bleibt relevant; wer das nur behauptet, wird unsichtbar.
SG
Prokurist | Publizist | Verantwortungsträger im Versorgungsdiskurs
Kontakt: sg@aporisk.de
Wer das für Formalie hält, unterschätzt die Verantwortung, die Sprache heute tragen muss.
Ein Kommentar ist keine Meinung. Er ist Verpflichtung zur Deutung – dort, wo Systeme entgleiten und Strukturen entkoppeln.
Ich schreibe nicht, um zu erklären, was gesagt wurde. Ich schreibe, weil gesagt werden muss, was sonst nur wirkt, wenn es zu spät ist.
Denn wenn das Recht nur noch erlaubt, aber nicht mehr schützt, darf der Text nicht schweigen.
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