Stand: Mittwoch, 26. November 2025, um 18:40 Uhr
Apotheken-News: Kommentar von heute
Kommentar von Seyfettin Günder zu den aktuellen Apotheken-Nachrichten über Honorarstillstand, Standortverluste, digitale Rezeptwege und berufs- wie gesundheitspolitische Folgen
Die Schlagzeile über die „bittere Realität“ der Betriebe trifft einen Nerv, weil sie eine Entwicklung verdichtet, die seit Jahren statistisch dokumentiert, aber emotional oft verdrängt wird. Wenn Inhaberinnen und Inhaber erzählen, dass ein Standort eigentlich als Altersvorsorge gedacht war und nun geschlossen werden musste, zeigt sich die Diskrepanz zwischen politischer Beruhigungsrhetorik und wirtschaftlichem Alltag. Dort, wo täglich Arzneimittel abgegeben, Risiken abgefangen und Unsicherheiten aufgefangen werden, ist die Luft dünn geworden. Das Bild einer „sterbenden Struktur“ ist keine Übertreibung mehr, sondern für viele Regionen ein nüchternes Lagebild.
Der Kern des Konflikts liegt in einem Honorarsystem, das trotz steigender Kosten, höherer Anforderungen und wachsender Verantwortung seit zwei Jahrzehnten praktisch eingefroren wurde. Personal, Energie, IT-Sicherheit, Miet- und Finanzierungskosten sind massiv gestiegen, ohne dass die Vergütung die gleiche Bewegung gemacht hätte. Die Lücke zwischen betriebswirtschaftlicher Realität und politisch definiertem Vergütungsrahmen wächst von Jahr zu Jahr. Wer Standorte sichern soll, braucht Planungssicherheit – und genau die wird ausgerechnet dort verweigert, wo Versorgungssicherheit organisiert wird. Dass einzelne Inhaberinnen und Inhaber berichten, sich selbst keine Gehaltserhöhung mehr zu gönnen, ist ein Alarmsignal, kein Randphänomen.
Hinzu kommt eine Reformarchitektur, die unter dem Stichwort „PTA-Vertretung“ eine vermeintliche Lösung anbietet, tatsächlich aber an der Substanz des Berufsbildes sägt. Wenn akademisch ausgebildete Heilberufler durch Assistenzberufe ersetzt werden können, sinkt die Attraktivität des Studiums und die Bereitschaft, unternehmerisches Risiko zu übernehmen. Das Versprechen einer qualitätsgesicherten wohnortnahen Betreuung wird so schrittweise in ein kostensparendes Minimalmodell überführt. Wer in der Öffentlichkeit vor „Medikamenten-Kiosken“ warnt, beschreibt keine abstrakte Gefahr, sondern die logische Konsequenz einer Politik, die Qualifikation zur Verhandlungsmasse macht.
Parallel verschiebt die Kombination aus elektronischem Rezept und massiver Online-Werbung die Kräfteverhältnisse. Wenn digitale Kanäle Patientenströme in Richtung großer Versender lenken, ohne regionale Strukturen angemessen zu berücksichtigen, entsteht ein ökonomisches Ungleichgewicht, das am Ende vor allem kleine und mittlere Betriebe trifft. Die Werbebotschaft lautet Bequemlichkeit, der Preis ist die schleichende Ausdünnung der Präsenz vor Ort. Dort, wo Beratungsgespräche, Spontanentscheidungen und niedrigschwellige Hilfeleistungen stattfinden, wird Liquidität abgezogen, während zusätzliche Aufgaben – von Engpassmanagement bis Impfaufklärung – weiter zunehmen.
Die mediale Zuspitzung auf einzelne Beispiele hat eine Chance und ein Risiko zugleich. Sie macht sichtbar, dass es nicht um Nostalgie für ein Geschäftsmodell geht, sondern um die Frage, wie viel Redundanz und Resilienz ein Gesundheitssystem sich leistet. Gleichzeitig droht das Bild eines jammernden Berufsstandes, wenn die strukturellen Zusammenhänge nicht klar benannt werden. Entscheidend ist daher eine Erzählung, die wirtschaftliche Kennzahlen, demografische Entwicklungen, Versorgungsaufgaben und rechtliche Rahmenbedingungen miteinander verbindet. Nur dann wird erkennbar, dass jede Schließung mehr bedeutet als eine weniger beleuchtete Eingangstür.
Am Ende steht eine schlichte, aber harte Wahrheit: Ein Land, das wohnortnahe Arzneimittelversorgung ernst nimmt, kann sich einen dauerhaften Stillstand bei der Vergütung und eine gleichzeitige Aufweichung der beruflichen Standards nicht leisten. Wer Reformen gestaltet, muss die betriebswirtschaftliche Tragfähigkeit ebenso im Blick behalten wie die Qualität der Beratung und die Rolle der Betriebe als niedrigschwellige Gesundheitsanlaufstelle. Die aktuelle Debatte zeigt, dass die Schmerzgrenze vieler Inhaber längst überschritten ist. Wird sie weiter ignoriert, kippt eine gewachsene Struktur, die sich später mit keinem kurzfristigen Programm und keiner Imagekampagne mehr reparieren lässt.
Die Erzählung vom „großen Apothekensterben“ gewinnt erst dann ihre eigentliche Schärfe, wenn man sie vom Einzelschicksal in den Systemkontext stellt. Wo Inhaber ihre Altersvorsorge verlieren, stehen nicht nur private Lebenspläne auf dem Spiel, sondern auch Orte, an denen jeden Tag Unsicherheit abgefedert und Gesundheitskompetenz gestärkt wird. Wenn Honorare zwanzig Jahre lang stehenbleiben, während Personal, IT und Sicherungssysteme durch die Decke gehen, ist das kein Schicksal, sondern eine politische Entscheidung. Die Kombination aus eingefrorener Vergütung, wachsender Aufgabentiefe und verschärftem digitalem Wettbewerb zeigt, wie schnell ein Versorgungssystem an den Punkt kommt, an dem betriebswirtschaftliche Grenzen die Versorgung mitziehen. Genau an dieser Nahtstelle entscheidet sich, ob wohnortnahe Betreuung eine leere Floskel bleibt oder als konkrete Infrastruktur verteidigt wird.
Dies ist kein Schluss, der gelesen werden will – sondern eine Wirkung, die bleibt. Wenn öffentliche Aufmerksamkeit, persönliche Zeugnisse und harte betriebswirtschaftliche Kennziffern dieselbe Richtung zeigen, ist der Zeitpunkt verpasst, an dem kosmetische Korrekturen noch reichen würden. Die strukturelle Unterfinanzierung der Betriebe, der geplante Tausch von Qualifikation gegen kurzfristige Entlastung und die ungebremste Verschiebung von Rezeptströmen in digitale Kanäle ergeben zusammen ein Risiko, das weit über die Bilanzen einzelner Inhaber hinausgeht. Wer jetzt nachjustiert, verhandelt nicht mehr nur über ein paar Euro Fixhonorar, sondern über die Frage, ob Versorgung als flächendecktes Netz oder als punktuelle Dienstleistung überlebt. Der eigentliche Prüfstein wird sein, ob Politik und Selbstverwaltung die Warnsignale als verhandelbare Klage oder als Lagebild behandeln – und ob sie bereit sind, die stillen Reserven dieses Systems zu schützen, bevor die Lücken sichtbarer sind als die Standorte.
SG
Prokurist | Publizist | Verantwortungsträger im Versorgungsdiskurs
Kontakt: sg@aporisk.de
Wer das für Formalie hält, unterschätzt die Verantwortung, die Sprache heute tragen muss.
Ein Kommentar ist keine Meinung. Er ist Verpflichtung zur Deutung – dort, wo Systeme entgleiten und Strukturen entkoppeln.
Ich schreibe nicht, um zu erklären, was gesagt wurde. Ich schreibe, weil gesagt werden muss, was sonst nur wirkt, wenn es zu spät ist.
Denn wenn das Recht nur noch erlaubt, aber nicht mehr schützt, darf der Text nicht schweigen.
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