Zum Jubiläum des Falls der Berliner Mauer begegnen uns aktuell täglich Bild- und Videodokumente, die uns die Zeit der deutschen Teilung und die Freude der Wiedervereinigung vor Augen führen. Bilder, die um die Welt gingen, wie der Sprung eines Ostberliner Grenzsoldaten über den Stacheldraht Richtung Westen, US-Präsident Ronald Reagan am Brandenburger Tor und Deutsche aus Ost und West, die auf der Mauer tanzend die Wiedervereinigung feiern, haben sich in unser Gedächtnis eingebrannt. Bilder prägen die Erinnerung an Geschichte wesentlich, transportieren Emotionen über Jahrzehnte hinweg und prägen das kollektive Gedächtnis einer Gesellschaft. Erinnerungen werden so nicht nur von und für Zeitzeugen bewahrt, sondern erwachen auch für all diejenigen zum Leben, die Geschehnisse nicht selbst mit erlebt haben.
Flickr-Gruppe sammelt Fotodokumente seit 1989
Teile der Mauer, die bis vor 25 Jahren Berlin, Deutschland und die Welt in zwei Teile spaltete, stehen heute noch als mahnendes Denkmal inmitten der Hauptstadt, sind Touristenattraktion und Motiv zahlloser Fotografien. Auch auf Yahoos Foto-Community Flickr ist die Geschichte der Berliner Mauer in tausenden Bildern aus den letzten Jahrzehnten dokumentiert. In Zusammenarbeit mit Jetzt.de ruft Flickr seine Community und Fotografen aus Deutschland auf, die Geschichte seit der Wende 1989 zu dokumentieren und ihre Fotos in die dafür gegründete Gruppe "Die Mauer ist weg - Deutschland 1989-2014" (https://www.flickr.com/groups/berlin1989-2014) hochzuladen. Die Motive können dabei über Aufnahmen der Berliner Mauer oder ihrer Reste hinaus gehen - es kann Street Art sein, die diese Thematik aufgreift, ein Trabi auf unseren Straßen oder "(n)ostalgische" Einrichtungen in einem Szene-Cafe. Flickr-Nutzer zeigen, wie sie die Geschichte der Wiedervereinigung erlebt haben - ganz individuell und persönlich. Unter allen Fotografen, die Bilder zur Gruppe beisteuern, werden zweimal je eine Digitalkamera in Retrooptik verlost.
Interview mit Dr. Christine Lohmeier:
Wie definiert sich das "kollektive Gedächtnis"? Was macht es aus und warum ist es für eine Gesellschaft wichtig?
Dr. Christine Lohmeier: Das kollektive Gedächtnis ist wie ein Bewusstsein für eine gemeinsame Vergangenheit. Das kollektive Gedächtnis kommt z.B. an Gedenk- und Feiertagen zum Ausdruck. Auch Archive, Museen und Monumente sind Teil und zugleich Ausdruck des kollektiven Gedächtnisses. Es ist ein entscheidender Aspekt der gesellschaftlichen Identität und des Selbstverständnisses und ist keinesfalls nur in Bezug auf historische Rückblicke relevant. Vielmehr beeinflusst das kollektive Gedächtnis auch Visionen, die für die Zukunft entwickelt werden - was für machbar, sinnvoll und ethisch vertretbar gehalten wird und was nicht.
Wie kann das Internet als unser kollektives Gedächtnis funktionieren? Gibt es unserer Erinnerungskultur eine neue Gestalt?
Dr. Christine Lohmeier: Das Internet funktioniert nicht als kollektives Gedächtnis. Es mag vielleicht eine Form des Archivs sein - wobei fraglich ist, wie lange was gespeichert wird und wer über Daten verfügen kann.
Es sind die Interaktionen - posten, teilen, hochladen, etc. - die im Web 2.0 und auf Fotoplattformen wie Flickr sowohl eine individuelle Erinnerungsarbeit - also eine bewusste Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und den eigenen Erinnerungen - als auch eine kollektive Erinnerungskultur ermöglichen. Das Internet eröffnete veränderte Formen der Erinnerungsarbeit - so kann ich jetzt mit einer Person, die auf einem anderen Kontinent lebt, z.B. ein gemeinsames Fotoalbum erstellen. Die Erinnerungskultur ist durch das Web 2.0 grenzüberschreitender geworden und erlaubt einzelnen Usern aktiv dazu beizutragen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass das Internet unbedingt eine demokratische Teilhabe an der Erinnerungskultur fördert. Hier gibt es klare Unterschiede - nicht alle haben die gleichen Chancen und die technischen und ökonomischen Vorrausetzungen zur Erinnerungskultur beizutragen.
Wie kann eine Erinnerungskultur im Web gerade jungen Menschen Geschichte nahe bringen?
Dr. Christine Lohmeier: Junge Menschen stoßen im Web auf Informationen zu einem historischen Ereignis, die sie eventuell zur weiteren Recherche und zum Austausch mit anderen anregen. Dadurch entsteht Erinnerungskultur, die im Web auch praktiziert und stets neu verhandelt werden kann. Erinnerungskultur lebt von der Auseinandersetzung mit Geschichte, dem eigenen Erlebnissen und den Erlebnissen und Erinnerungen anderer Menschen. Das Web macht durch Texte, audiovisuelles Material und Bilder eine sehr anschauliche Darstellung historischer Ereignisse und Erinnerungen an diese möglich. Allerdings sind mediatisierte Erinnerungen nur ein Aspekt in der Auseinandersetzung mit dem Vergangenen. Auch Orte, Emotionen, persönliche Gespräche und Gegenstände prägen unser Verständnis von Vergangenheit und die Erinnerungskultur.
Wir wirken Bilder auf unsere Erinnerung? Wie wichtig sind Bilder für die Wahrnehmung von Geschichte?
Dr. Christine Lohmeier: Die meisten Menschen nehmen einen Großteil der nötigen Informationen visuell auf. Fotos und Filmaufnahmen sprechen uns unter anderem deswegen sehr an, weil wir viele Informationen über eine historische Situation durch aussagekräftiges Bildmaterial erfahren können. Manche Fotografien oder Filmaufnahmen werden sogar zu Ikonen eines bestimmten Ereignisses oder einer Epoche - man denke z.B. an den Mitschnitt, der den Moment zeigt, als am 9. September 2001 das entführte Flugzeug in den zweiten Twin Tower fliegt oder an Aufnahmen der Maueröffnung.
Sehr eindrückliche Bilder historischer Ereignisse erinnern uns nicht nur an das Geschehnis selbst, sondern sind verwoben mit der eigenen Biographie. So erinnern sich die meisten Menschen sehr genau, wo und in welcher Situation sie gerade waren, als sie vom Angriff auf die Twin Towers oder von der Maueröffnung erfahren haben. Bilder können somit zu Erinnerungsobjekten werden, die kollektive als auch individuelle Erinnerungen auslösen und die eigene Biographie mit historischen Ereignissen in Verbindung setzen.